"Divino Claudio" – Leben und Schaffen des bedeutendsten Komponisten seiner Zeit:
Claudio Monteverdi (1567-1643)
450 Jahre sind seit Claudio Monteverdis Geburt vergangen - wie fern bzw. wie nahe sind uns der Mensch und seine Werke aus jener Zeit: am Ende des Renaissance- und am Beginn des Barock-Zeitalters?
Tatsache ist, dass der genannte Zeitraum: um den Wechsel vom 16. zum 17. Jahrhundert herum, zu den spannendsten der jüngeren Menschheitsgeschichte gezählt werden muss. Gleichzeitig mit Claudio Monteverdi lebten und wirkten keine geringeren Geister als William Shakespeare, Francis Bacon, Giordano Bruno, Galilei, Caravaggio, Rubens und René Descartes - um nur die bedeutendsten zu nennen. Das Zeitalter war geprägt von Gegenreformation und Absolutismus auf der einen Seite sowie von wissenschaftlichen Entdeckungen und einer allgemeinen geistigen Emanzipation auf der anderen Seite.
Claudio Monteverdi kam am 13. oder 14. Mai 1567 (belegt ist nur das Taufdatum, der 15. Mai) in Cremona zur Welt, als Sohn des Baders oder Wundarztes Baldassare Monteverdi. Die lombardische Stadt begann damals gerade, sich zum bedeutendsten Zentrum des Geigenbaus zu entwickeln. Das wichtigste musikalische Amt war aber das des Kapellmeisters am großartigen romanischen Dom und Erzbischofssitz. Seit 1581 hatte es Marc'Antonio Ingegneri inne. Zu ihm schickte der Vater seine beiden Söhne in den Musikunterricht: neben Claudio auch den um sechs Jahre jüngeren Giulio Cesare.
Claudio erwies sich schnell als Hochbegabung: seine erste Komposition, die "Sacrae cantiunculae" (wörtlich: "geistliche Liedchen"), wurde bereits 1582 veröffentlicht.
Der einflussreichste Komponist von Kirchenmusik war damals zweifellos Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-94), der sogar seinen eigenen Stil ausprägte, eben den sogenannten "Palestrina-Stil", der auch von Monteverdis Lehrer Ingegneri, wie von vielen anderen gepflegt wurde. Der Palestrina-Stil entsprach auf vollendete Weise den gegenreformatorischen Forderungen des Konzils von Trient für die Kirchenmusik: Textverständlichkeit, Würde im Ausdruck sowie Ausschluss von weltlichen Inhalten und Parodie.
Dazu ein kurzes Klangbeispiel:
Giovanni Pierluigi da Palestrina:
"Jesus, rex admirabilis"
Geistliches Madrigal für 3 Stimmen
The Monteverdi Choir, John Eliot Gardiner
(Hyperion, 2006) 01'45
Auch Monteverdis erste kompositorische Gehversuche, die erwähnten "Sacrae cantiunculae" für eine bis acht Stimmen aus dem Jahr 1582, waren noch dem Palestrina-Stil verpflichtet. Hier als Beispiel daraus das dreistimmige "Ave Maria":
Claudio Monteverdi:
"Ave Maria" für drei Stimmen
(Buch 1, Nr. 7 aus "Sacrae cantiunculae")
Györ Girls' Chorus, Dirigent: Miklos Szabo (Hungaroton, 1995) 01'17
Das ist ähnlich schlicht, mit klaren Harmonien und hoher Textverständlichkeit geschrieben wie das zuvor gehörte Palestrina-Madrigal, allerdings weniger feierlich, dafür aber deutlich bewegter.
Monteverdi stand als junger Komponist also durchaus in der Tradition, auch was die verwendete Form des Madrigals betrifft.
[Das Madrigal als musikalische Form - eine mehrstimmige Vokalkomposition - hatte sich aus der gleichnamigen literarischen Form entwickelt, die schon im 14. Jahrhundert in Italien verbreitet war - mit Francesco Petrarca als ihrem wichtigsten Vertreter.
Die Unterscheidung in geistliche und weltliche Madrigale ergab sich vor allem aus den verwendeten Texten (durch Unterlegung eines anderen Textes - die sogenannte "Paraphrase" - konnte die Bestimmung allerdings leicht verändert werden). Allgemein lässt sich sagen, dass die Gattungstradition mit der Zeit zunehmend von weltlichen Madrigalen bestimmt wurde.]
Claudio Monteverdis Schaffen setzt erst in der späten Phase der Gattungstradition ein. Im Laufe seines Lebens hat er dann aber noch acht Madrigalbücher herausgegeben; sein letztes aus dem Jahr 1638 darf als die abschließende Vollendung der Gattung betrachtet werden.
Claudio Monteverdi:
"Ardo, avvampo, mi struggio, accorrete"
Madrigal für acht Stimmen und Violine
(aus dem achten Madrigalbuch, Venedig 1638)
La Venexiana (Glossa, 2005) [Anfang] 01'36
Dieses kurze Klangbeispiel, der Anfang des Madrigals "Ardo, avvampo, mi struggio, accorrete" ("Ich brenne, ich lodere, ich verzehre mich, eilet herbei") verdeutlicht die gigantische Entwicklung, die Claudio Monteverdis Musiksprache in den ersten Jahren des neuen, des siebzehnten Jahrhunderts, erreicht hatte. Die Renaissance und den Palestrina-Stil mit ihrer kunstvollen Polyphonie hatte er hinter sich zurück gelassen und das neue Ideal einer ausdrucksstarken, von Gefühlen und Leidenschaften bewegten Musik verwirklicht - eine Musik, in deren Mittelpunkt zum ersten Mal der Mensch stand.
Mit dem achten Madrigalbuch hatte der damals (1638) einundsiebzigjährige Komponist eine Summe seines Lebenswerkes vorgelegt: insgesamt 21 Canti (Gesänge), aufgeteilt in zwei Kategorien, nämlich "Canti guerrieri" (Kriegs- oder Kampfes-Lieder) und "Canti amorosi" (Liebeslieder).
Die im achten Madrigalbuch versammelten Stücke waren meist schon Jahre früher entstanden - darunter auch das 1624 in Venedig uraufgeführte "Combattimento di Tancredi e Clorinda", die dramatische Geschichte des Kreuzritters Tancredi und seiner sarazenischen Geliebten Clorinda. Beide treffen hier in voller Rüstung, als vermeintlich feindliche Krieger aufeinander. Erst nachdem Tancredi seinem Gegner nach langem Kampf den Todesstoß versetzt und ihm den Helm abgenommen hat, erkennt er mit Entsetzen seine Geliebte. Bevor sie stirbt, bekennt Clorinda sich aber noch zum Christentum.
Für dieses quasi szenische Madrigal (Monteverdi sprach im Vorwort der Erstausgabe selbst vom "genere rappresentativo", also dem darstellerischen Stil) benutzte der Komponist den Text einer Szene aus Torquato Tassos berühmtem Versepos "La Gerusalemme liberata" (Das befreite Jerusalem). Tasso hatte sein Hauptwerk nach fünfzehjähriger Arbeit im Jahr 1574 vollendet.
Zu den drei Gesangsstimmen (Erzähler, Tancredi und Clorinda - 2 Tenören und ein Sopran) wählte der Komponist ein kleines Streicherensemble aus vier "viole da braccio" (wörtlich "Armgeigen", nach heutigem Verständnis wohl 2 Violinen, Viola und Violoncello) plus eine Basso-continuo-Gruppe, die sich üblicherweise aus einem Streichbass und Cembalo (oder Laute) zusammensetzte.
Die Dramatik der Erzählung veranlasste ihn, besondere stilistische Mittel zu wählen beziehungsweise zu erfinden, die er schließlich im Vorwort zum achten Madrigalbuch selbst als "erregten Stil" ("genere concitato") bezeichnete.
Abgesehen von der besonderen deklamatorischen Stimmführung der Gesangspartien, vielmehr der Partie des Erzählers, die nämlich den größten Teil alleine gestaltet, erfand er auch neue Spieltechniken für die Streicher: das "Tremolo" und das "Pizzicato".
Auf dem Höhepunkt der ersten Kampfszene zwischen Tancredi und Clorinda sind die Streicherakkorde mit dem Hinweis versehen: „Hier legt man den Bogen weg und reißt ("strappa") die Saiten mit zwei Fingern“ (also sogar eine Vorwegnahme des sogenannten "Bartok-Pizzicato").
Das Pizzicato erfüllt an dieser Stelle eine doppelte Funktion: zum einen wird das Stoßen mit dem Helm lautmalerisch nachgezeichnet; zum anderen aber ist das Pizzicato der perkussive Höhepunkt einer musikalischen Steigerungslinie.
Das Tremolo hingegen erklingt als schnelle Wiederholung eines Einzeltones, um die kämpferische Erregung wiederzugeben.
Claudio Monteverdi:
aus "Combattimento di Tancredi e Clorinda"
- Ausschnitt 1 (von "Nacht ..." bis inkl. 1. Kampfszene)
La Venexiana (Glossa 2005) 04'55
Soweit ein erster Ausschnitt aus Claudio Monteverdis szenischem Madrigal "Combattimento di Tancredi e Clorinda", das er 1624, im Alter von 57 Jahren schrieb und das zweifellos zu seinen Hauptwerken zählt - schon wegen der bedeutenden, "klassischen" Textvorlage (die der Komponist übrigens selbst adaptierte), aber vor allem wegen der hier vollendet, in Reinkultur zur Geltung kommenden stilistischen Mittel: "genere rappresentativo", "genere concitato", lautmalerische Spieltechniken der Instrumente".
Das ganze Stück dauert eine knappe halbe Stunde - zu lang, um es im Rahmen dieses Vortrags komplett zu spielen. Ich möchte Ihnen aber nicht den berührenden Schluss des Dramas vorenthalten: Clorinda stirbt in Frieden, als Christin.
Claudio Monteverdi:
aus "Combattimento di Tancredi e Clorinda"
- Ausschnitt 2 (Schluss)
La Venexiana (Glossa 2005) 6'05
Beredteren musikalischen, klanglichen Ausdruck für die menschlichen Gefühle des Stolzes, des (Kampfes-)Mutes, aber auch des Entsetzens, des Mitleids und der Klage hatte zuvor noch kein Komponist gestaltet, als Claudio Monteverdi in diesem herzzerreißenden Stück, ebenso wie in vielen anderen von ihm geschaffenen Werken.
"Le passioni dell'anima" - die Leiden oder auch die Leidenschaften der Seele - lautet denn auch der Titel einer Monteverdi-CD, die das Ensemble "Concerto Italiano" unter der Leitung des Cembalisten Rinaldo Alessandrini, eines der weltweit führenden Spezialensembles für Alte Musik, 1999 herausgebracht hat. Damit wäre auch der Aspekt der Monteverdi-Rezeption angeschnitten, auf den ich später noch eingehen werde.
Jedenfalls sind sich die wichtigsten Interpreten darin einig, dass Monteverdis Musik den Dichterworten eine perfekte Bühne eröffnet, dass insofern eine perfekte Aussprache für die Sänger zur Grundvoraussetzung gehört und dass die leidenschaftliche Anteilnahme am emotionalen Geschehen ebenso für die Instrumentalisten eine notwendige Bedingung ist.
Zunächst aber möchte ich Ihnen Monteverdis Biographie in komprimierter Form nachzeichnen. Wir haben einige wichtige Daten aus seinem Leben, ein paar Portraits und etliche Briefe, auch Berichte von Zeitgenossen über ihn und seine Umwelt, seine Familie, seine Brotherren und Auftraggeber. Und doch sind die Informationen darüber, wie Claudio Monteverdi gelebt und gearbeitet hat, was er dachte und fühlte, zu spärlich, um daraus ein lebendiges Bild von dieser faszinierenden Persönlichkeit zu gestalten. Das wird auch bei der Lektüre der jüngsten, in diesem Jubiläumsjahr erschienen Bücher über den Komponisten deutlich: den Arbeiten von Silke Leopold und Michael Heinemann. (Den ersten Monteverdi-Roman, unter dem Titel "Divino Claudio" schrieb übrigens der Ungar Laszlo Passuth schon Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts.)
Am Ende bleibt seine Musik das aussagekräftigste Medium, mit dessen Hilfe wir uns Monteverdis Persönlichkeit nähern können.
Nachdem Claudio Monteverdi 1587, von Cremona aus, sein erstes Buch mit fünfstimmigen, ausschließlich weltlichen Madrigalen veröffentlicht hatte, fand er im Jahr 1590 seine erste feste Stelle: als Sänger und Violist (Viola da gamba - Spieler) am Hofe des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga in Mantua.
Der 1587 inthronisierte Vincenzo I. war nicht nur der berühmt-berüchtigte Lebemann, den wir aus Giuseppe Verdis Oper "Rigoletto" kennen ("La donna è mobile"), sondern er zeigte sich auch recht kulturbeflissen; und so wurde sein Hof zu einem der Kunstzentren des damaligen Italien: Hier verkehrten u.a. bedeutende Dichter und Maler. Was die Musik anbetrifft, so legte der Herzog Wert auf ein repräsentatives eigenes Orchester, das sowohl für die weltliche wie für die geistliche Musik an seinem Hof zu sorgen hatte.
Wenn er sich auf Reisen begab, musste ihn sein Orchester selbstverständlich begleiten. Auf diese Weise kam Monteverdi als Orchestermitglied im Jahre 1595 über Prag und Wien nach Ungarn, wo sich Vincenzo I. - letztlich erfolglos - am Krieg des habsburgischen Kaisers gegen die Türken beteiligte, und zwei Jahre später in das damals führende Musikland Flandern (den flämischen Komponisten Giaches de Wert, der bis zu seinem Tod 1596 Hofkapellmeister in Mantua war, sollte er ja später im Amt beerben). Hier entdeckte der Herzog den Maler Peter Paul Rubens und machte ihn später, ab 1600, für ein paar Jahre zu seinem Hofmaler.
Aus einem Brief wissen wir, dass Monteverdi, wie fast alle Hofbedienstete, nicht nur schlecht bezahlt war, sondern auf solchen Reisen auch für sich selbst zu sorgen hatte. Seine Beschwerde war immerhin in dem Sinne erfolgreich, dass ihm 1601 die Leitung der Hofkapelle übertragen und wohl auch sein Lohn entsprechend angehoben wurde. Allerdings wissen wir auch aus weiteren Briefen, dass er nun ständig neue Kompositionen liefern musste, sei es für die kirchlichen oder die weltlichen Belange. Ein krankheitsbedingter Ausfall war in diesem Herschaftssystem nicht vorgesehen. Als er dennoch einmal wegen eines Darmleidens nicht arbeitsfähig war, experimentierte er auf eigene Faust mit einem dubiosen Medikament, das Quecksilber enthielt; mit der Folge, dass er mindestens einen Monat das Bett hüten musste und fast sein Leben verloren hätte.
Trotz der beträchtlichen Arbeitsbelastung am Hof der Gonzaga gelang es Monteverdi quasi nebenbei zwischen 1590 und 1605 vier weitere Bücher mit weltlichen Madrigalen zu komponieren und zu veröffentlichen. In diesen Madrigalbüchern wagte er sich teilweise mit ausgehaltenen Dissonanzen in neue kompositorische Ausdrucksbereiche vor. Ohnehin ist es beachtlich, dass Monteverdi sich musikalisch der Leidenschaft verschrieb, in einer Zeit, in der es für Leidenschaften zumindest in der Öffentlichkeit keinen Platz gab.
In seinen Madrigalbüchern fühlte er sich vom Diktat der Kirchenmusik befreit, zum Beispiel von der immer wieder laut werdenden Kritik des reaktionären Musiktheoretikers Giovanni Artusi, der schon gegen Monteverdis Berufung zum Hofkapellmeister in Mantua Einspruch erhoben hatte.
Hören wir als ein schönes Beispiel für die gewachsene expressive Freiheit das fünfstimmige Madrigal "Ohime, se tanto amate" aus dem vierten, 1603 veröffentlichten Madrigalbuch.
Claudio Monteverdi
"Ohime, se tanto amate", aus 4. Madrigalbuch, Venedig 1603
Concerto italiano, Rinaldo Alessandrini (opus 111, 1993) 02'50
Um den Wechsel vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert änderte sich auch im privaten Leben Claudio Monteverdis Entscheidendes: Am 20. Mai 1599 hatte er die Sängerin Claudio Cattaneo geheiratet, die ihm zwei Söhne und eine Tochter schenkte: zuerst 1601 Francesco, der später Sänger am Markusdom in Venedig wurde, dann im Februar 1603 die Tochter Leonora, die aber bald darauf starb, und schließlich im Mai 1604 der zweite Sohn Massimiliano, der später Medizin studierte.
Aber 1627 bekam der junge Mediziner ein großes Problem: er wurde auf Befehl der Inquisition wegen der Lektüre von verbotenen Büchern verhaftet. Der Vater kämpfte um seinen Sohn, nutzte all seine Verbindungen zur Obrigkeit und erreichte endlich durch Zahlung eines Lösegelds, dass Massimiliano ein Jahr später wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Das Jahr 1607 wurde in mehrfacher Hinsicht zum Schicksalsjahr für Monteverdi. Im September starb plötzlich seine Ehefrau. Der verfrühte Tod seiner Gefährtin traf ihn nicht nur seelisch zutiefst, sondern bürdete ihm nun auch finanziell die alleinige Sorge um die Söhne auf. Dabei hatte das Jahr so verheißungsvoll angefangen: am 24. Februar war im herzoglichen Palast Monteverdis erste Oper "L'Orfeo" uraufgeführt worden - ein Meilenstein in der Musikgeschichte. Denn wenn auch Jacopo Peris sieben Jahre zuvor in Florenz uraufgeführte "Euridice" als die allererste Oper der Musikgeschichte gelten muss, so wäre die neue Gattung ohne Monteverdis bahnbrechenden "L'Orfeo" sicher niemals auf ihre phänomenale Erfolgsspur geraten.
Für die Zeitgenossen war allein schon die Tatsache einzigartig, dass in dieser "Favola in musica" alle "Darsteller musikalisch sprechen" (wie es ein Ohrenzeuge der Uraufführung ausdrückte). Das Libretto stammte von Alessandro Striggio, einem Beamten am Hof der Gonzaga, der vorteilhafter Weise selbst auch Musiker war und später bis zu seinem Tod im Jahre 1630 Monteverdis engster Vertrauter blieb. Er ließ sich bei seiner Arbeit von verschiedenen Vorbildern der berühmten Orpheus-Sage beeinflussen, so auch von Peris "Euridice", fügte aber auch eigene Elemente, wie die kommentierenden Chöre nach Art der griechischen Tragödie hinzu. Am Ende war es jedoch vor allem Monteverdis Leistung, diese Vorlage in ein bewegendes, zu Herzen gehendes Musikdrama zu verwandeln, das bis heute nichts von seiner Frische und seiner Größe eingebüßt hat.
Zwei Ausschnitte habe ich gewählt, um einen Eindruck davon zu vermitteln. Zuerst hören wir die festliche Eingangs-Toccata und den Anfang des anschließenden Prologs, in welchem die Musik als allegorische Figur auftritt: "Ich bin die Musik, die mit süßen Klängen das aufgewühlte Herz zu trösten weiß, und die sowohl Zorn als auch Liebe in den eisigsten Herzen entfachen kann."
Claudio Monteverdi:
aus "L'Orfeo" - Toccata und Prolog
Concerto Vocale, René Jacobs, Efrat Ben-Nun
(harmonia mundi, 1995) 04'20
Für den zweiten Ausschnitt aus Monteverdis Jahrtausendoper habe ich die Schlüsselszene ausgewählt, in der Orfeo sich singend und Lyra spielend Caronte (Charon), dem Wächter des Totenreiches nähert, um Einlass flehend, damit er vom Herrscher der Unterwelt und seiner Ehefrau, also von Plutone und Proserpina, die Gunst erbitten kann, seine heißgeliebte Euridice zum Leben zurückführen zu dürfen.
Und, oh Wunder! Die Macht der Musik obsiegt. Caronte fühlt sich zuerst geschmeichelt, dann verzaubert und schließlich schlummert er friedlich ein und gibt damit den Weg frei.
Claudio Monteverdi:
aus "L'Orfeo" - III. Akt, "Orfeo son io" und "Ben mi lusinga alquanto"
Laurence Dale, Tenor (Orfeo), Paul Gérimon, Bass (Caronte),
Concerto Vocale, René Jacobs (Harmonia mundi, 1995) 06'30
Es gibt inzwischen sehr viele gute Einspielungen des "Orfeo" von Monteverdi. Ich habe mich hier für die 1995 entstandene Gesamtaufnahme unter der Leitung von René Jacobs entschieden, weil sie mir persönlich besonders gut gefällt, vor allem klanglich. Ich hätte mich selbstverständlich mit überzeugenden Argumenten auch für die Aufnahmen unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt oder Elliott Gardiner oder Rinaldo Alessandrini oder Claudio Cavina entscheiden können, um nur einige herausragende Interpreten zu nennen.
Zu Monteverdis Lebzeiten und ungefähr noch ein Jahrhundert nach seinem Tod wurden einige seine besten und populärsten Werke, wozu der "Orfeo" an vorderster Stelle zählt, unter den damals herrschenden Bedingungen, also fast ausschließlich im höfischen und kirchlichen Kontext, hochgeschätzt und fanden so ihre Verbreitung doch weit über Italien hinaus (Am 27. Januar 1614 kam es in der Salzburger Residenz zur ersten Aufführung des "Orfeo" außerhalb Italiens).
Danach aber klafft zeitlich eine Lücke von fast zweihundert Jahren, in denen Monteverdi etwas in Vergessenheit geriet. Seine Wiederentdeckung verdanken wir vor allem dem venezianischen Komponisten und Musikwissenschaftler Gian Francesco Malipiero, der unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg die erste Gesamtausgabe der Werke Claudio Monteverdis edierte. (Die erste Schallplattenaufnahme des "Orfeo" entstand allerdings schon 1939 in der Mailänder Scala.)
Leider ging ein großer Teil der Kompositionen Monteverdis verloren - so soll er über die drei erhaltenen Opern "L'Orfeo", "Il ritorno d'Ulisse" (Die Heimkehr des Odysseus) und "L'incoronazione di Poppea" (Die Krönung der Poppea) hinaus angeblich noch dreizehn weitere Opern geschrieben haben. Von einem der verlorengegangenen Werke, der Oper "Arianna" (über die mythologische Figur der Ariadne, die zuerst ihren Geliebten Theseus aus dem Labyrinth befreit, dann aber von ihm verlassen und auf der Insel Naxos zurückgelassen wird) ist aber zumindest eine große Hauptszene erhalten geblieben, nämlich das "Lamento d'Arianna". Nachdem die Oper 1608 am Hof von Mantua uraufgeführt worden war, entwickelte sich das Lamento noch zu Monteverdis Lebzeiten zu einem "Hit", wie wir heute sagen würden. Es existiert in zwei Versionen: als fünfstimmiges Madrigal, das 1614 im Rahmen des sechsten Madrigalbuchs erstmals veröffentlicht wurde und in der berühmteren Version für Solostimme und Basso continuo, die erstmals 1623 in Venedig erschien.
Leider kann ich aus Zeitgründen weder auf dieses geniale Lamento noch auf weitere Lamenti von Monteverdis Hand, wie zum Beispiel das "Lamento della ninfa" aus dem achten Madrigalbuch näher eingehen, obwohl der Klage-Gestus in Monteverdis Musik in der Tat eine wichtige Rolle spielt.
Hier nur zur Erinnerung der Anfang aus dem "Lamento d'Arianna", in einer Aufnahme mit der Sopranistin Anne Sophie von Otter; sie wird begleitet von dem Theorbe-Spieler Jakob Lindberg: "Lasciate mi morire" (Lasst mich sterben)!
Claudio Monteverdi:
"Lamento d'Arianna", SV 22 für Solostimme und Basso continuo
Anne Sophie von Otter, Sopran
Jakob Lindberg, 'Theorbe
(Archiv-Produktion, 1999) [Anfang] 01'25
Ich komme noch einmal zurück auf das Schicksalsjahr 1607, in dem neben dem Orfeo auch noch das erste von zwei Büchern mit sogenannten "Scherzi musicali" erschien (1632 folgte das zweite, zusammengestellt vom Verleger Bartolomeo Magni). Es handelt sich um eine Sammlung von meist tänzerischen Vokal- und Instrumentalstücken, zu denen auch das ungewöhnlich fröhliche und spritzige Stück "Damigella tutta bella" gehört - ein schönes Trinklied, das nach all der Dramatik und Klage eine andere Seite des Komponisten Claudio Monteverdi zeigt.
Claudio Monteverdi:
"Damigella tutta bella" aus: "Scherzi musicali I (1607)"
Philippe Jarousky & Nuria Rial, Sopran; L'Arpeggiata, Christina Pluhar
(Erato, 2008) 02'26
Trotz der schon erwähnten Widrigkeiten bot die Stelle als Hofkapellmeister in Mantua dem Komponisten Claudio Monteverdi doch eine Reihe von Möglichkeiten, auch außerhalb des Herzogtums mit seiner Musik auf sich aufmerksam zu machen.
Da waren zum einen die in Venedig veröffentlichten Madrigalbücher Nr. 3 bis 5 sowie der eben zitierte erste Band der "Scherzi musicali", der ebenfalls in Venedig herauskam; zum anderen natürlich die Opern, darunter vor allem der "Orfeo", 1609 in Venedig im Druck erschienen, aber auch die zweite Oper "Arianna", die 1608 in Mantua am Hof der Gonzaga uraufgeführt und höchstwahrscheinlich ebenfalls veröffentlicht wurde, wenngleich uns davon leider nur wenig mehr als das berühmte "Lamento d'Arianna" geblieben ist.
Aber auch im Bereich der geistlichen Musik, von dem ich bislang noch kaum gesprochen habe, gab es während Monteverdis Zeit in Mantua durchaus Kompositionen, die weitere Verbreitung fanden.
Hier ist vor allem die "Marienvesper" zu nennen, deren vollständiger Originaltitel lautet: Vespro della Beata Vergine da concerto composta sopra canti firmi („Marienvesper zum Konzertieren komponiert über Cantus firmi“).
Monteverdi hat sie 1610 zusammen mit der "Missa in illo tempore" komponiert und dem damaligen Papst Pius V. gewidmet. Er wollte sich damit wohl für eine Stelle in Rom bewerben, die er jedoch nicht bekam.
1612 starb Vincenzo I. und Monteverdi wurde von dessen Sohn und Nachfolger, der für die Musik weniger Interesse hatte, als Kapellmeister entlassen - nach 22järigem Dienst am Hof von Mantua. Im Jahr darauf bewarb sich der Komponist aber erfolgreich um eine der begehrtesten Positionen, die in der damaligen Musikwelt zu vergeben waren: diejenige des Kapellmeisters am Markusdom von Venedig. Den Erfolg verdankte er wohl nicht zuletzt der Marienvesper, die schon früh zu seinen meistgespielten Werken zählte.
Claudio Monteverdi:
aus: Marienvesper - 1.) Versiculus & Responsorium
The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists, Eliot Gardiner
(Archiv-Prod., 5/1989 - Live-Aufnahme, Basilica di San Marco, Venezia) 02'08
Der Anfang von Monteverdis berühmter Marienvesper - die Verwandtschaft mit dem "Orfeo" ist unüberhörbar. In seinem weiteren Verlauf erweist sich dieses Werk dann als sehr vielgestaltig, sowohl hinsichtlich der Besetzungen: von solistisch über kammermusikalisch bis chorisch oder orchestral, als auch hinsichtlich der verschiedenen Musikstile: von der Gregorianik über virtuoses instrumentales Konzertieren bis hin zu opernhaft dramatischer Vokalmusik.
Wir hörten eben eine Aufnahme, die 1989 live im Markusdom von Venedig entstanden ist, dem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Kirchenbau, der mit seinen vielen Emporen wie gemacht schien für prachtvolle polyphone Musik.
Hier wirkte nun Claudio Monteverdi von 1613 bis zu seinem Tod im Jahre 1643. - eine große Zeitspanne von dreißig Jahren, die sich jedoch relativ knapp zusammenfassen lässt.
Zwar hatte "il divino Claudio", wie ihn schon die Zeitgenossen nannten, nun ein bedeutendes, ehrwürdiges Amt inne, das von ihm Autorität und Leistung verlangte, aber bei der musikalischen Ausgestaltung der festlichen Gottesdienste musste er nicht immer neue Werke schreiben, sondern konnte sich gelegentlich auch schon bestehender Arbeiten aus seiner Zeit in Mantua bedienen.
Die Mehrchörigkeit, wie sie in der Renaissance-Zeit vor allem von Monteverdis Vorgänger Giovanni Gabrieli gepflegt worden war, interessierte den neuen Kirchenmusikdirektor Venedigs jedoch kaum noch.
1641 veröffentlichte Monteverdi seine wichtigsten geistlichen Werke in einer großen Sammlung unter dem Titel "selva morale e spirituale" (die wenigen vorliegenden Gesamteinspielungen ergeben eine Gesamtdauer von knapp vier Stunden Musik).
Seine Vorliebe für das weltliche Madrigal und damit für die Vertonung wertvoller Dichtung - die allermeisten seiner Madrigale verwenden Texte von hoher literarischer Qualität - verlor Monteverdi jedoch als Kirchenmusikdirektor keineswegs.
In den Jahren 1614 und 1619 veröffentlichte er das sechste und das siebte Madrigalbuch, 1638 folgte das achten und 1651, acht Jahre nach seinem Tod, konnte schließlich noch ein posthumes neuntes Madrigalbuch erscheinen.
Und auch die Komposition von musiktheatralischen Werken hat Monteverdi in Venedig nicht vernachlässigt, auch wenn vieles davon als verloren gelten muss, wie ich schon dargelegt habe. Zwischen dem bahnbrechenden "L'Orfeo" und den beiden anderen erhaltenen gebliebenen Opern vergingen allerdings mehr als dreißig Jahre. "Il ritorno d'Ulisse" wurde 1640 in Venedig uraufgeführt und "L'incoronazione di Poppea" kam 1642 ebenfalls in Venedig heraus.
Mit der "Heimkehr des Odysseus" und "Krönung der Poppea" krönte der fünfundsiebzigjähre Monteverdi sein gesamtes Schaffen. Diese beiden Opern schrieb er nicht mehr für ein höfisches, sondern für eines der ersten bürgerlichen Theater, das 1638 von der Familie Grimani erbaute "Teatro Santi Giovanni e Paolo". Stilistisch wurde vor allem die "Krönung der Poppea" wegweisend für die Entwicklung der Gattung: hier wird regelrecht ein Feuer der Emotionen in drei Akten abgebrannt, hier geht es nicht mehr um hehre Tugenden, sondern um Intrigen, Laster und Lust, in der fragwürdigen Liebesbeziehung zwischen dem römischen Kaiser Nero und seiner Geliebten Poppea.
Zum Abschluss meines Monteverdi-Vortrages soll nun aber keine Opernmusik erklingen, sondern etwas Intimeres aus dem Bereich der geistlichen Musik: zuerst ein "Salve Regina" für 2 Stimmen und Basso continuo, hier in einer Aufnahme mit dem wunderbaren Tenor Marco Beasley, der im Playback-Verfahren beide Stimmen übernimmt, und dann ein weiteres traumhaftes Stück für zwei Stimmen, das "Duo Seraphim" aus der "Marienvesper", das hier aber in einer besonderen Aufnahme zu hören sein wird: gespielt von zwei Violoncelli.
Claudio Monteverdi:
"Salve Regina" (II) für 2 Tenöre und Basso continuo
aus: "Selva morale e spirituale" (1641)
Marco Beasley et Marco Beasley, Tenor; Guido Morini, Orgelpositiv
(Alpha, 2013) 05'20
Claudio Monteverdi:
"Duo Seraphim" aus der "Marienvesper"
Sonia Wieder-Atherton und Natalja Schachowskaja, Violoncello
(RCA, 1999) 03'50
"Phänomen Rossini" - Zu Leben und Werk einer schillernden, widersprüchlichen Persönlichkeit
Musik 1 Ouvertüre spezial (Collage) 04'25
Zur Einleitung eine Ouvertüre - was sonst?
Allerdings nicht eine der vielen Ouvertüren, die Rossini geschrieben hat, sondern eine Collage aus kurzen Passagen verschiedener Rossini-Ouvertüren.
Einige Stellen werden Sie erkannt haben, andere vielleicht nicht, aber Sie dürften stets das Gefühl gehabt haben: Ja, das ist Rossini, typisch Rossini - diese Leichtigkeit, diese Brillanz, dieser kontrastreiche Wechsel zwischen massivem Orchesterklang und feinen Bläser- oder Streichersoli, vor allem aber diese Crescendi und Accelerandi im Orchester (Steigerungen und Beschleunigungen), die gleichsam wie eine Klangwalze auf den Hörer zurollen.
Nun aber gleich darauf das nächste Hörbeispiel - und ich bin gespannt, wie Sie diese Musik einschätzen.
Musik 2 "Petite messe solenelle" - "Prélude religieux" - Anfang 03'00
Was glauben Sie? War das auch Rossini - oder nicht doch eher Beethoven? -
Diese mit Dissonanzen gewürzten und von schwerlastenden Pausen geprägten Klavierakkorde?
Doch - auch das ist Rossini - es handelt sich um den Beginn des "Prélude religieux", eines Satzes aus der "Petite messe solenelle" - ein Rossini allerdings, der kaum vergleichbar ist mit dem allbeliebten, allbekannten Opernkomponisten - wie zum Beispiel dem Schöpfer der erfolgreichsten Buffo-Oper aller Zeiten: "Il Barbiere di Siviglia" (Der Barbier von Sevilla).
Diese "Petite messe solenelle" ("Kleine feierliche Messe) komponierte Gioachino Rossini ganz am Ende seines Lebens, nämlich zwischen 1863 und 1867, zuerst in der originalen und originellen Fassung für 2 Klaviere, Harmonium, Vokalsolisten und Chor. Später ließ er noch eine Orchesterfassung folgen.
Schon der Titel "Petite messe solenelle" - also "Kleine feierliche Messe" - ist in sich widersprüchlich und verweist auf einige typische Charaktereigenschaften vor allem des alternden Komponisten Rossini: der hatte sich ja bereits 1829 von der großen Bühne der Oper zurückgezogen und widmete sich danach anscheinend überhaupt nicht mehr der Musik, sondern vielmehr seinen neuen Leidenschaften: Allen voran der "Gourmandise", dem Genuss edler Speisen und entsprechender Weine, und natürlich auch der Verwaltung seines beträchtlichen Vermögens.
Über die wahren Gründe für den abrupten Stopp seiner so überaus erfolgreichen Opernproduktion im Alter von gerade mal 37 Jahren ist viel spekuliert worden. Es spielten sicher verschiedene Faktoren eine Rolle - vom Frust über den Verlust wichtiger Ämter im Pariser Musikleben bis hin zu Depressionen aufgrund einer früh erworbenen Gonorrhoe. Eine eindeutige Begründung fehlt allerdings bis heute.
Einen großen Teil der dreißiger und vierziger Jahre verbrachte Rossini auf Reisen. Von 1836 und 1848 war er in Bologna als Direktor des Musiklyzeums tätig. In diese Zeit fällt auch die Trennung von seiner ersten Ehefrau, der Sängerin Isabella Colbran und nach deren Tod 1845 die Hochzeit mit seiner französischen Lebensgefährtin Olympe Pélissier.
Erst ab 1855, nach der Rückkehr nach Paris, in seine neuerworbene Villa im Vorort Passy, nahm er die Kompositionstätigkeit - wenn auch weitgehend heimlich - wieder auf, um sich seinen "Alterssünden" zu widmen - den "Péchés de vieillesse", wie er sie selbst nannte. Dahinter verbirgt sich eine große Zahl von kleinen Werken für Klavier solo, aber auch für Solostimmen und Klavier.
Als seine letzte Alterssünde betrachtete er wohl die "Petite messe solenelle", die zwar rein äußerlich ein Gelegenheitswerk war - geschrieben für die Einweihung der Privatkapelle eines befreundeten Grafen - mit der er jedoch auch ein persönliches Fazit seines Schaffens zog, wie einige aufschlussreiche Anmerkungen zur Partitur deutlich machen.
Musik 3 "Petite messe solenelle" - "Dominum deus" 01'50
Der Tenor Andrea Botticelli, begleitet vom Orchestra dell'Accademia nazionale di Santa Cecilia, mit dem Beginn des "Dominum deus" aus dem Gloria der "Petite messe solenelle", in der Orchesterfassung von 1867.
Am 13. November 1868 ist Gioachino Rossini in Passy an den Folgen einer Sepsis nach einer Mastdarmkrebs-Operation gestorben.
Wenn wir in Rossinis Lebenschronologie rund sechzig Jahre zurückblättern, gelangen wir von der letzten Alterssünde zu einem erstaunlichen Jugendwerk, den "Sei sonate a quattro" aus dem Jahr 1804 - ein Werk, das er selbst später ganz typisch auf seine spöttische Art folgendermaßen erinnerte bzw. abtat:
»sechs schreckliche Sonaten, die ich auf dem Landgut (nahe Ravenna) meines Freundes und Maecenas Triossi komponierte, als ich noch im kindlichsten Alter war, ohne je eine Lektion im Begleiten erhalten zu haben; das Ganze komponiert und kopiert in drei Tagen und aufgeführt von Triossi, Kontrabass, Morri, seinem Vetter, erste Violine, dessen Bruder, Cello, die wie Hunde spielten, und mir selbst als zweite Geige, der bei Gott nicht am wenigsten sich wie ein Hund benahm«.
Musik 4 Sonata a quattro Nr. 5 Es-dur, 3. Satz: Allegro 3'15
Das war der dritte Satz: Allegro,- aus der Sonata a quattro in Es-Dur - gespielt von einem Streichquartett der "Virtuosi Italiani" - hier in der "unüblichen" basslastigen Besetzung mit 2 Violinen, Violoncello und Kontrabass - ohne Viola.
Rossini wurde 1792 in dem Adria-Städtchen Pesaro geboren, das heute zur Region Marche gehört, damals aber noch Teil des Kirchenstaates war.
Der Vater Giuseppe, aus dem bei Ravenna gelegenen Ort Lugo stammend, hatte 1790 in Pesaro eine Stelle als Stadttrompeter ergattert, die Mutter Anna reüssierte später als Opernsängerin.
Nachdem der Vater seinen Job als Stadttrompeter verloren hatte - nicht zuletzt wegen politischer, pro-republikanischer Aktivitäten -, zog die Familie im Jahr 1802 für einige Zeit nach Lugo, in des Vaters Geburtsort. Hier lernte der aufgeweckte junge Rossini dank der gutausgestatteten Bibliothek der Brüder Giuseppe und Luigi Malerbi, den ortsansässigen Feudalherren und Kulturträgern, bald viele Partituren der Wiener Klassiker Haydn und Mozart kennen.
Die Musik Haydns und Mozarts hat den angehenden Komponisten Rossini zeitlebens geprägt. Viel später beantwortete er die Frage nach seiner besten Oper mit "Don Giovanni" von Mozart.
Rossinis Erstlingswerke, die sechs Sonate a quattro, sind eindeutig unter diesem Einfluss entstanden, und zeigen trotzdem schon etliche Merkmale des späteren typischen Rossini-Stils, darunter vor allem die melodische Erfindungsgabe und die federnde Leichtigkeit des musikalischen Flusses. Dazu passt, was Rossini später über die Entstehung dieses Jugendwerks aus dem Jahr 1804 geäußert hat, dass er nämlich die sechs Sonaten in drei Tagen heruntergeschrieben haben will.
Zumindest 25 Jahre lang behielt der Komponist dann dieses Arbeitspensum und -tempo bei.
Das Handwerk, das er von der Pike auf gelernt hat, fällt ihm unheimlich leicht. Später wird er im Schnitt nur drei bis vier Wochen für die Komposition einer neuen Oper brauchen. Die Ouvertüre dazu schreibt er mitunter am Tag vor der Premiere. Wenn sie nicht Bestandteil des Vertrages ist, kann er aber auch schon mal ganz darauf verzichten.
Als absoluter Pragmatiker lässt er in ein neues Stück aber immer wieder auch Teile früherer Werke mit einfließen. Darin unterscheidet er sich nicht von vielen anderen bedeutenden Kollegen, die ein großes Arbeitspensum zu erledigen hatten - wenn wir nur an den Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach denken, der fast jeden Sonntag eine neue Kantate zu liefern hatte.
Rossinis Weg zum erfolgreichsten Opernkomponisten der Geschichte
Seine erste "Scrittura", d.h. seinen ersten Opernauftrag, erhält Rossini 1810, als "Einspringer" sozusagen, vom venezianischen Teatro San Mosè. Der Erstling, eine sogenannte "farsa comica", erhält den Titel "La cambiale di Matrimonio"/Der Heiratswechsel. Bereits 1812 schreibt er dann eine Oper für die Mailänder Scala ("La pietra del paragone"/Der Prüfstein oder Die Liebesprobe). Diese ersten Erfolge machen die Impresarii Italiens aufmerksam, ja begierig auf das junge Talent.
Schon die Opern "Tancredi" und "L'italiana in Algeri", beide 1813 für Venedig komponiert, lassen auch die Kenner im Publikum spüren: Rossini erhebt sich weit über die Mittelmäßigkeit, die sich damals auf den italienischen Bühnen breitmacht.
Die neapolitanischen Jahre
Der legendäre Impresario Domenico Barbaja engagiert den neuen "Star"-Komponisten der italienischen Oper schließlich 1815 an das von ihm geleitete Theater San Carlo in Neapel.
Die erste Rossini-Oper für Neapel war "Elisabetta, regina d'Inghilterra" ("Elisabeth, Königin von England", uraufgeführt im Oktober 1815).
Die Hauptrolle hatte Rossini der dortigen Primadonna assoluta, der spanischen Sopranistin Isabella Colbran (geboren 1785) auf den Leib, bzw. die Stimme geschrieben. Diese Stimme wurde von den Zeitgenossen als „ein wahres Wunder an Süße und Stärke“ beschrieben, „ihre Technik und ihr Stil [als] einfach vollkommen“ .
Colbrans Stimme besaß einen Umfang von beinahe drei Oktaven, in allen Registern vollkommen ausgeglichen, und die Sängerin konnte sie „…mit immer gleicher Weichheit und Energie“ erklingen lassen. Außer mit ihrer Stimme wusste Isabella Colbran aber auch durch ihre schauspielerischen Fähigkeiten und ihre überragende Bühnenpräsenz zu beeindrucken - selbst der König von Neapel bewunderte sie, und mit dem Theaterdirektor Barbaja war sie zeitweise durch eine Affäre verbunden.
Rossini bekam von Barbaja einen (fünf Mal erneuerten) Jahresvertrag und freute sich, für diese Ausnahme-Sängerdarstellerin schreiben zu können. In kurzer Zeit entstanden so mehrere Paraderollen für Isabella Colbran, darunter die Desdemona in Otello (1816) und die Titelpartie in Armida (1817).
Bei den Musiktheater-Werken des jungen Rossini handelte es überwiegend um sogenannte Seria-Opern, also (ernste) musikalische Dramen. Leider sind sie heute oft nur noch einigen wenigen Rossini-Spezialisten bekannt.
Auf den Spielplänen der meisten Opernhäuser waren sie jedenfalls jahrzehntelang äußerst selten zu finden. Nur die beiden wichtigsten Rossini-Festivals, in der Geburtsstadt Pesaro und in Bad Wildbad (im nördlichen Schwarzwald), bringen seit Jahren systematisch mit das gesamte, riesige Opernschaffen des Komponisten auf die Bühne.
Dabei finden sich gerade auch in den wenig oder weniger bekannten Opern viele der typischen Ingredienzien des Rossini-Stils: Eingängige Melodik, ausgeprägter Sinn für wirkungsvolle Dramatik, durch Kontraste in Dynamik und Agogik, Orchester-Crescendi und -Accelerandi (die schon eingangs erwähnte "Klangwalze"), und nicht zuletzt der großartige Einsatz der sogenannten "Belcanto"-Technik, worunter nicht einfach nur "schöner Gesang" zu verstehen ist, sondern eine kunstvoll-virtuose Stimmführung mit vielen verschiedenen "Koloraturen" ("Färbungen" im Sinne von Verzierungen).
Rossini gehörte übrigens zu den ersten Opernkomponisten seiner Zeit, die Koloraturen exakt notierten, um so der damals grassierenden eigenmächtigen Freizügigkeiten vieler Sänger bei der Ausgestaltung ihrer solistischen Partien Einhalt zu gebieten.
Meister des "Belcanto"
Um Rossinis Meisterschaft in der Belcanto-Technik, aber auch die daraus resultierenden Anforderungen an die jeweiligen Interpreten, eindrucksvoll zu demonstrieren, habe ich eine Arie der Armida aus der gleichnamigen Oper ausgewählt: Das Rondò "D'amore al dolce impero" ("Von der Liebe zur süßen Herrschaft") - eine klare Arienform mit wiederkehrenden Teilen, bei welchen jeweils die Verzierung (also die Koloratur) gesteigert wird. Nur ganz kurz zum Inhalt: Die Oper spielt zur Zeit der Kreuzzüge, die Eroberung Jerusalems steht kurz bevor. Armida, eine sarazenische Prinzessin mit Zauberkräften, versucht das zu verhindern, indem sie einen der Anführer, den Ritter Rinaldo, mit ihrer Magie bezirzt und in ihrem Liebesreich gefangen hält. (Wir hören den ersten Teil der Arie.)
Musik 5 "Armida" - Rondò "D'amore al dolce impero" - Anfang 04'10
Joyce DiDonato, eine der besten Koloratursopranistinnen unserer Zeit, mit dem Anfang des Rondò "D'amore al dolce impero", einer Arie der Zaubererin Armida aus der gleichnamigen, 1817 entstandenen Oper - dies ist zweifellos eines der glanzvollsten Belcanto-Stücke, das Rossini für seine damalige Primadonna assoluta Isabella Colbran geschrieben hat.
Durch die gemeinsame Arbeit am Teatro San Carlo in Neaapel waren sich die Sängerin und ihr Komponist nähergekommen und daraus erwuchs schließlich eine Liebesbeziehung. 1822 heirateten die beiden - kurz bevor sie mit der ganzen Theater-Companie im März nach Wien reisten.
Dem Impresario Domenico Barbaja war es gelungen, ein dreimonatiges Gastspiel am Wiener Kärntnertortheater zu organisieren. Rossini hatte für diese Gelegenheit eigens die Oper "Zelmira" geschrieben. Im Fühling 1822 brach nun in Wien ein wahrer Rossini-Rausch aus - heute würde man neudeutsch wohl von einem "hype" sprechen. Das Publikum konnte nicht genug kriegen von Rossinis Musik, alle Vorstellungen waren ausverkauft bzw. überbucht, vor allem die neue Oper "Zelmira" feierte einen unglaublichen Triumph.
Musik 6 "Zelmira" - Duettino Zelmira & Emma - Anfang 02'50
Der Anfang des Duettino "Perchè mi guardi e piangi" ("Warum schaust Du mich an und weinst") aus Rossinis Dramma in musica "Zelmira", in einer Aufnahme mit der Sopranistin Cecilia Gasdia in der Titelrolle der Zelmira - die Tochter des alternden Königs Polidoro von Lesbos, den sie vor Angriffen von Rivalen zu retten versucht - und der Mezzo-Sopranistin Bernarda Fink in der Rolle von Zelmiras Vertrauter Emma. Diese Szene ist musikalisch besonders apart gestaltet, weil der Gesang nur von einer Harfe und einem Englischhorn begleitet wird.
Von Wien aus kehrte Rossini nur für ein Jahr in seine Heimat zurück, wo 1823 seine letzte für ein italienisches Opernhaus geschriebene Oper entstand, nämlich "Semiramide" (deutsch: Semiramis) für La Fenice in Venedig.
Das "melodramma tragico" über die Königin von Babylon entwickelte sich schnell zu einer seiner erfolgreichsten Seria-Opern überhaupt. Die Titelrolle hatte Rossini selbstverständlich wieder für seine Ehefrau Isabella Colbran geschrieben. Diese Belcanto-Partie stellt bis heute eine Herausforderung für alle bedeutenden Koloratursopranistinnen der Welt dar.
Musik 7 "Semiramide" - Cavatina der Semiramide - Schluss 02'55
Noch einmal die großartige Sopranistin Joyce DiDonato - mit dem Schluss der Cavatina der Semiramide, der Titelfigur aus der gleichnamigen Rossini-Oper.
Ab August des Jahres 1824 war das Ehepaar Rossini dann wieder in Paris, wo es nun wirklich sesshaft werden wollte. Das klappte auch tatsächlich für einige Jahre recht gut. Der Komponist erhielt schnell einige bedeutende Ämter und er schrieb auch bald für das von ihm geleitete Théâtre italien die Opera buffa Il viaggio a Reims, ossia L’albergo del giglio d’oro - seine letzte italienischsprachige Oper. Sie wurde im Juni 1825 anlässlich der Krönung des französischen Königs Karls X. uraufgeführt.
Große Teile aus diesem einmaligen, nicht wiederholbaren Gelegenheitswerk, das über keine Handlung im eigentlichen Sinne verfügt - eine vornehme Gesellschaft, die zu den Krönungsfeierlichkeiten nach Reims will, bleibt aus technischen Gründen in einem Dorfhotel "Zur goldenen Lilie" hängen - hat Rosini drei Jahre später in eine neue, französischsprachige Oper einfließen lassen: "Le Comte Ory". Dieses Werk, mit einem von Eugène Scribe verfassten Libretto wurde im August 1828 an der Opéra de Paris uraufgeführt und sollte Rossinis vorletzte Oper überhaupt bleiben.
Musik 8 "Le comte Ory" - Finale 02'00
"Ecoutez ces chants de victoire" (Hört diese Siegesgesänge) - das Finale der komischen Oper "Le comte Ory" (Der Graf Ory).
Damit bin ich bei der Darstellung von Gioachino Rossinis Leben und Schaffen im Jahr 1829 angekommen, in welchem der Meister seine letzte Oper komponierte, wieder ein Werk in französischer Sprache: die "Grand opéra" "Guillaume Tell". Das Libretto basiert auf Friedrich Schillers Drama "Wilhelm Tell", und die entscheidende Szene, sowohl im Drama wie in der Oper, ist natürlich der berühmte "Apfelschuss", zu dem der Freiheitsheld Wilhelm Tell vom Tyrannen, dem Landvogt Gessler gezwungen wird: Er soll auf dem Martkplatz von Altdorf mit seiner Armbrust einen Apfel treffen, den er zuvor auf dem Kopf seines minderjährigen Sohnes Walter platziert hat.
Von dieser Oper existieren auch italienische und deutsche Fassungen.
Gioachino Rossini äußerte sich Jahre später gegenüber Richard Wagner, der ihn in seiner Villa in Passy besuchte, darüber, dass ihn nur die von seinen Eltern empfangene Liebe dazu befähigt habe, diese dramatische Vater-Sohn-Szene auf so berührende Weise zu gestalten - ganz ohne Koloratur, in einer natürlichen, schlicht-expressiven Melodik.
Für diese berührende Arie habe ich auf eine ältere Aufnahme (sie stammt von 1960) zurückgegriffen: Hier singt der wunderbare Bariton Piero Cappuccilli in der italienischen Fassung "Resta immobile" (Bleib unbeweglich).
Musik 9 "Guglielmo Tell" - Resta immobile 2'45
"Resta immobile", "Sois immobile" im französischen Original - eine bewegende dramatische Szene, mit der sich Rossini von der großen Bühne verabschiedete. Da war er gerade mal 37 Jahre alt.
Gourmet Rossini
Lange Zeit kursierten die klischeehaften Gerüchte, Rossini kümmere sich nur noch um sein Vermögen - er hatte wirklich außergewöhnlich gut verdient und besaß Immobilien, auch in Italien, ebenso Gold und Wertpapiere. Außerdem, so erzählte man sich, pflege er in seiner Villa in Passy hauptsächlich seinen Bauch, investiere seine Kreativität nun vor allem in Kochrezepte.
Die eine Wahrheit ist, dass geschäftstüchtige Leute verschiedene Rezepte, aber auch unzählige Restaurants mit dem Namen Rossini verziert haben - bis heute.
Die Wahrheit ist aber auch: Gutes Essen war Rossini ein existenzielles Bedürfnis. Kamen Freunde zu Besuch, vor allem aus der Heimat, schickte er ihnen im Vorfeld umfangreiche Einkaufslisten.
Diese Briefe sind wahre literarische Leckerbissen: Trüffel aus der Toskana, Panettone aus Mailand, Balsamico-Essig aus Modena, Mortadella, Oliven, Gorgonzola, getrocknete Steinpilze. Aber auch Schinken aus Sevilla oder Nougat aus Marseille erreichten den Feinschmecker. Seine Lieblingsspeisen hatten alle einen ordentlichen Anteil an Trüffel: Maccaroni mit Trüffelfarce oder die berühmten Tournedos: Rinderfilets mit Trüffeln und Gänseleber in Madeira.
„Ich gebe zu, dreimal in meinem Leben geweint zu haben: als meine erste Oper durchfiel, als ich Paganini die Violine spielen hörte und als bei einem Bootspicknick ein getrüffelter Truthahn über Bord fiel.“, soll der alternde Rossini gesagt haben.
Als erfahrener Esser widmete Rossini den kulinarischen Orgien ein musikalisches Potpourri. In seiner postum herausgegebenen Sammlung von Kabinettstücken "Les Péchés de la Vieillese" (Die Sünden des Alters) tummeln sich auf dem Klavier unter anderem "Variationen von Butter", "Anchovis"-Themen, "Radieschen" und "Cornichons".
In den über dreißig Jahren zuvor, nämlich schon 1832, entstandenen "Soirées musicales", einer Sammlung von Liedern mit Klavierbegleitung, findet sich hingegen neben gediegenen, ernsthaften Stücken auch eine verrückte neapolitanische Tarantella mit dem schlichten Titel "La danza" (Der Tanz), ein regelrechtes "Show piece", das in meinem Rossini-Porträt nicht fehlen darf.
Musik 10 "Soirées musicales" - "La danza" 3'00
Der mexikanische Tenor Rolando Villazon mit seiner kapriziösen Version von Rossinies "La danza", 2006 live aufgenommen beim traditionellen Opernair-Konzert auf der Berliner Waldbühne.
Auf "La danza" folgt in der Sammlung der "Soirées musicales" ein Stück von völlig entgegengesetztem Charakter, das die Bewunderung Richard Wagners hervorrief: Das tendenziell sozialkritische Lied "I Marinai" (Die Seeleute).
Musik 11 "Soirées musicales" - "I Marinai" - Anfang 3'05
Der Tenor Raul Gimenez und der Bariton Alessandro Corbelli mit dem Anfang des Liedes "I Marinai", am Klavier begleitet von Nina Walker.
Zum Schluss meines Rossini-Porträts wende ich mich wieder den schon mehrfach erwähnten "Alterssünden" zu - leider bleibt gar nicht genug Zeit, um einen repräsentativen Eindruck von der Fülle der hier in vierzehn Bänden versammelten, teilweise recht originellen, meist kurzen Kabinettsstückchen zu vermitteln. Von den allein rund 150 Klavierstücken aus den "Péchés de Vieillesse" habe ich den Zyklus "Quelques riens pour album" ("Einige Nichtigkeiten fürs Album") und daraus wiederum die "Danse siberienne" ausgewählt.
Auf dem vor einigen Jahren für sage und schreibe 24000 Euro veräußerten Autograph dieses zweiminütigen "sibirischen" Tanzes hat Rossini mit schwarzer Tinte und in seiner zierlichen Handschrift folgende Widmung verfasst:
« A Madame Ravina (pour son usage exclusivement personnel) Son ami et collegue G. Rossini Passy - 1864 » ("Für Madame Ravina - für ihren ausschließlich persönlichen Gebrauch. Ihr Freund und Kollege G. Rossini. Passy - 1864")
Musik 12 "Péchés de vieillesse" - "Danse siberienne" 2'20
Die Medici
Eine Herrscherdynastie aus Florenz im Spiegel der Musikgeschichte
Wer heute Florenz und die Toskana bereist, kann anhand vieler prächtiger Kunstwerke (der Architektur wie der bildenden Kunst) den einstmals ungeheuren Glanz der Medici-Dynastie noch immer bewundern, obwohl das Ende ihrer Herrschaft schon fast dreihundert Jahre zurückliegt.
Bild 1 Gian Gastone de'Medici
1737 verstarb mit Gian Gastone der letzte Großherzog der Toskana aus dem Hause der Medici. Er blieb ohne Nachkommen, die Dynastie der Medici war damit erloschen.
Ihren Anfang nahm die sagenhafte Geschichte dieser Familie – die vielleicht zunächst tatsächlich als Ärzte (italienisch: medici) tätig waren und später die Berufsbezeichnung zu ihrem Namen gemacht haben – im Tal des Mugello, nördlich von Florenz. Gründer der Dynastie war wahrscheinlich ein gewisser Giambuono, geboren wohl 1150. Sein Sohn Chiarissimo hatte dann aber immerhin schon einen Sitz im Rat der Stadtrepublik Florenz inne.
Ursprünglich trieben die Medici einfachen Handel, vor allem mit Wolle – und waren damit keinesfalls allein in der Toskana. Doch bald entwickelten sie sich zu mächtigen Bankiers, erfolgreich besonders im Geschäft mit der Kirche. Als 1429 Cosimo de'Medici (später "Il Vecchio", "der Alte" genannt) an die Familienspitze trat, hatte sein Vater Giovanni ihm, in eigenen Worten, "unermesslichen Reichtum" hinterlassen.
Bild 2 Cosimo de'Medici "Il Vecchio" (1389-1464)
[Porträt von Jacopo da Pontormo]
Cosimo ist klug und vorsichtig genug, sein Machtstreben nie zu zeigen. Und außer dem ererbten Reichtum hat er auch eine glückliche Hand. Mit ihm beginnt die große Zeit der Familie: 300 Jahre lang werden die Medici sich, mit kurzen Unterbrechungen, an der Macht halten, drei Päpste stellen und zwei Königinnen Frankreichs.
Mit Cosimo beginnt auch das große und wirkungsvolle Mäzenatentum der Medici. Kunstsinnig, offen für Neues und grenzenlos reich, versorgt die Familie zahlreiche Künstler mit Aufträgen, die heute zu den bedeutendsten der Kunstgeschichte gehören: Botticelli, Brunelleschi, Fra Angelico, Donatello, Michelangelo – um nur einige zu nennen, die Liste ist noch viel länger. Unter den Medici wird Florenz zur Metropole, manchen glauben sogar, zum Geburtsort der Renaissance. Zahlreiche Kirchen, Klöster, Paläste und Villen – darunter etliche architektonische Meisterwerke – bezeugen mit ihrer äußeren wie inneren Pracht, den großartigsten Gemälden, Fresken und Skulpturen die Macht, den Reichtum, aber eben auch den Kunstsinn und das Mäzenatentum der Medici.
Gewiss nehmen dabei die Architektur und die bildenden Künste in der Gesamtschau den ersten Rang ein, doch für die Repräsentation ihrer Macht und zu ihrem Vergnügen spielt auch die Musik bei den Medici von Anbeginn eine herausragende Rolle – ihr vor allem möchte ich in diesem Vortrag nachspüren.
Bild 3 Francesco Landini
Musik 1 Francesco Landini (1315-1397) - Ecco la primavera [1'10]
"Ecco la primavera" – ein Frühlingslied aus dem späten 14. Jahrhundert, komponiert von Francesco Landini, dem eindeutigen "Star" der damaligen Musikszene in Florenz und weit darüber hinaus. Dieses Stück findet sich in einer zwischen 1410 und 1415 entstandenen, kostbar verzierten Musikhandschrift – dem sogenannten "Squarcialupi-Codex".
Bild 4 Squarcialupi-Codex (mit Abb. Fr. Landini)
Der Squarcialupi-Codex wollte die wichtigsten Musikstücke des Trecento – so heißt im Italienischen das 14. Jahrhundert – für die Nachwelt dokumentieren. Die Handschrift entstand zwischen 1410 und 1415 im Florentiner Kloster Santa Maria degli Angeli und hat ihren Namen von dem Dom-Organisten Antonio Squarcialupi erhalten, der zwar nicht an der Herstellung beteiligt war, in dessen Besitz sie sich aber im 15. Jahrhundert befand, bevor sie von der Medici-Familie erworben wurde.
Der "Squarcialupi-Codex" enthält insgesamt 352 Werke von 12 Komponisten, der Löwenanteil aber, nämlich 145 Werke, stammt von Francesco Landini.
In einer der Initialen ist der Komponist mit einem Orgelportativ abgebildet – und mit geschlossenen Augen, wodurch zum Ausdruck gebracht wird, dass er seit seiner Kindheit erblindet war. Landini komponierte übrigens nicht nur, sondern er dichtete auch, spielte verschiedene Instrumente und befasste sich mit Astrologie und Philosophie.
Landinis Musik sowie diejenige anderer Trecento-Komponisten aus dem Squarcialupi-Codex wurde sicher auch im Hause der Medici wahrgenommen und gepflegt, doch es sollte noch fast ein Jahrhundert vergehen, bis sich von einer "Hofmusik" der Medici sprechen ließ. Während des 15. Jahrhunderts waren die führenden Mitglieder der Medici-Dynastie weiterhin offiziell "nur" als Bankiers tätig. Zum Zwecke der Verfestigung ihrer Macht und ihres Einflusses verfolgten sie zunächst andere Prioritäten als die Förderung der Musik: sie wollten sich mit dem Bau und der künstlerischen Ausgestaltung von Kirchen, Klöstern und Palästen Ansehen verschaffen – beim Klerus, beim Papst, aber auch bei den Bürgern von Florenz.
Zwei Kirchen in Florenz haben einen ganz besonderen Rang: an erster Stelle die Kathedrale Santa Maria del Fiore und dann die Basilica San Lorenzo.
Bild 5 Kathedrale von Florenz (mit Brunelleschi-Kuppel)
Der Bau der Kathedrale zog sich über mehr eineinhalb Jahrhunderte hin. 1379 wurde zwar schon das Langhaus in Betrieb genommen, aber es fehlte noch die Kuppel als Krönung des Bauwerks.
1417 legte Filippo Brunelleschi sein erstes Kuppelmodell vor, nachdem vorher beschlossen worden war, eine noch prächtigere und größere Kuppel zu erstellen, als das erste Modell vorgesehen hatte – natürlich vor allem dank des großzügigen Sponsorings der Medici. Der Bau der 107 Meter hohen Kuppel mit einem Durchmesser von 45 Metern dauerte 16 Jahre (1418 bis 1434). Von Anfang an trug die aus zwei Schalen bestehende Konstruktion sich selbst und wurde ohne Lehrgerüst errichtet. Aufgrund ihrer Einzigartigkeit wird sie noch heute als Höhepunkt der Renaissance-Baukunst gesehen.
Der Dom wurde nach der Fertigstellung der Kuppel am 25. März 1436 in Anwesenheit der beteiligten Künstler Donatello, Brunelleschi, Ghiberti, Michelozzo und Alberti durch Papst Eugen IV. geweiht.
Die Basilica San Lorenzo, der zweitwichtigste Kirchenbau in Florenz, ist noch weit mehr mit der Medici-Dynastie verbunden.
1419 bot Giovanni di Bicci de’ Medici, der Vater des Cosimo de’ Medici "Il Vecchio", dem Rat von Florenz an, anstelle des romanischen Vorgänger-Baus eine neue Kirche zu finanzieren. Filippo Brunelleschi, so etwas wie der "Hausarchitekt" der Medici – sie hatten sein Genie erkannt und nahmen ihn gegen konservative Kritik in Schutz –, wurde mit dem Entwurf beauftragt. Er war bereits mit der Planung des Kuppelbaues des Domes beschäftigt und sein Ruhm hatte sich damit vermehrt. Brunelleschi konnte aber nicht nur als Architekt neue Maßstäbe setzen. sondern leistete auch einen entscheidenden Beitrag zur Entdeckung der Zentralperspektive. Bei Brunelleschis Tod 1446 war der erste sakrale Renaissancebau allerdings noch nicht fertig. Er wurde von seinem Schüler Antonio Manetti fortgesetzt.
San Lorenzo wurde bald zur Pfarrkirche der Medici, woraus sich u.a. auch erklärt, dass mehrere Mitglieder der Dynastie den Vornamen Lorenzo trugen. 1521 erhielt Michelangelo den Auftrag, eine neue Sakristei zu bauen, Anfang des 17, Jahrhunderts kam noch eine sogenannte Fürstenkapelle hinzu. Beide Kapellen, die nicht von der Kirche aus, sondern von außen separat zu betreten sind und unter der Bezeichnung Medici-Kapellen berühmt wurden, dienten über die Jahrhunderte als Grablege der Medici.
Bild 6 Medici-Wappen
In Florenz wie in der gesamten Toskana begegnet man auch heute noch allenthalben, an sakralen wie profanen Bauwerken, auch auf vielen Werken der bildenden Kunst dem Wahrzeichen der Medici, ihrem einprägsamen Wappen: sechs Kugeln auf goldenem Grund, fünf davon rot, die oberste aber blau, gefüllt mit drei goldenen Lilien.
Musik 2 Heinrich Isaac - Fanfara dei Médici - "Palle, palle" [2']
Das war die sogenannte Fanfare der Medici mit dem Titel "Palle, palle". Der bezieht sich selbstverständlich auf das Wappen der Herrscher-Dynastie mit seinen sechs Kugeln oder Bällen – und nicht etwa auf die heutige, vulgäre Bedeutung des Wortes "palle": Eier oder Hoden. "Palle, palle" war zeitweise auch ein Schlachtruf der Medici-Anhänger in den Straßen von Florenz, bei den Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Patrizierfamilien und der daraus resultierenden zeitweiligen Vertreibung der Medici aus Florenz.
Das eben gehörte Musikstück gilt jedenfalls in der Musikgeschichte als die erste bekannte Vertonung eines Wappens. Geschrieben hat es Heinrich Isaac zwischen 1486 und 1490, also zu der Zeit, da Lorenzo de'Medici in Florenz herrschte.
Bild 7 Lorenzo de'Medici "Il magnifico" (1449–1492)
Lorenzo de'Medici (1449–1492) ist das wohl berühmteste Mitglied der florentinischen Bankiersfamilie. Als "der Prächtige" ("il magnifico") ist er in die Geschichte eingegangen, denn er war nicht nur Politiker, sondern auch ein glänzender Gastgeber, Dichter, Musiker und Intellektueller, der das geistige Klima bestimmte, in dem Künstler wie Michelangelo und Leonardo da Vinci ihre Lehrjahre verbrachten. Er regierte von 1469 bis 1492. das heißt, er wurde von den Räten der Stadt als primus inter pares aktzeptiert. Während dieser Zeit finanzierte und fördere er nicht nur die bildenden Künste in Florenz, sondern hatte auch Musikunterricht bei dem Domorganisten Antonio Squarcialupi sowie Tanzunterricht bei Guglielmo Ebreo, dem bekanntesten aller italienischen Tanzmeister.
Lorenzo gelang es bald auch, die besten Musiker und Komponisten seiner Zeit um sich zu scharen. Der bedeutendste unter ihnen war zweifellos Heinrich Isaac.
Musik 3 Heinrich Isaac - Hora è di maggio [2'03]
Dies war ein Karnevalslied, das Heinrich Isaac in Florenz komponiert hat, und zwar auf einen Text von Lorenzo de’ Medici.
Heinrich Isaac – um 1450 in Flandern geboren und 1517 in Florenz gestorben – stand seit etwa 1486 in den Diensten der Medici. Er war bei weitem nicht der einzige "ausländische" Künstler in Florenz und ganz Italien. Die Medici-Bank unterhielt zahlreiche Auslandsfilialen, nicht zuletzt auch eine im flandrischen Brügge. Im 15. Jahrhunderts aber galt die franco-flämische Musiker-Schule europaweit als führend.
Lorenzo hatte also darum den gebürtigen Flamen Isaac anwerben lassen und die toskanische Metropole wurde dem Komponisten schließlich zur zweiten Heimat. Sogar eine Ehefrau vermittelte ihm der Medici-Fürst.
Lorenzo Il magnifico war sich durchaus auch der identitätsstiftenden Kraft städtischer Feste bewusst, gerade in einem Gemeinwesen mit einer derart fragilen Herrschaftsstruktur. Von ihm stammt der Text jenes Loblieds auf die Jugend, das auf einem Umzug zum Fest des Calendimaggio, also des 1. Mai (vielleicht des Jahres 1490), vom Triumphwagen des Bacchus herunter gesungen wurde:„Quant‘ è bella giovinezza“: "Wie schön ist die Jugend, die so bald entflieht. Wer fröhlich sein will, sei es jetzt. Was morgen ist, weiß niemand."
Dieses Lied existierte als "Trionfo di Bacco e Arianna" oder "Canzone di Bacco" schon zu früh in verschiedenen Vertonungen und bis heute sind ihr zahlreiche weitere gefolgt. Hier eine Collage aus 5 Versionen zwischen dem 15. und 20. Jahrhundert.
Musik 4 Il trionfo di Bacco e Arianna - Collage aus 5 Versionen [5'05]
Lorenzo hatte nach dem Tod seines Vaters schon mit zwanzig Jahren die Geschäfte des Bankhauses und zugleich die Regierungsgeschäfte in Florenz übernommen – obwohl es das Amt eigentlich gar nicht gab, wurde der Medici in der Adelsrepublik faktisch als Vorsteher anerkannt. Mit viel Diplomatie und Sponsoring versuchte Lorenzo diese Stellung zu erhalten.
Denn es gab natürlich Konkurrenten: Die Adelsfamilie der Pazzi brachte sogar eine Verschwörung zustande, in die auch der Papst eingeweiht war, dem die Medici allmählich zu mächtig geworden waren.
Am 28. April 1478 kam es zu einem Anschlag auf die Medici-Brüder Lorenzo und Giuliano während der Ostermesse in der Kathedrale von Florenz. Giuliano stirbt, Lorenzo kann sich verletzt retten.
Die gedungenen Mörder werden vom Volk gelyncht und Lorenzo bleibt im Amt.
Als Lorenzo "Il magnifico" am 8. April 1492 stirbt, ist dies vor allem für die Kunst ein riesiger Verlust. Kein Geringerer als Michelangelo gestaltet sein Grabmal aus Marmor und Heinrich Isaac komponiert eine eindrückliche Totenklage, das "Lamento per la morte die Lorenzo Il Magnifico".
Bild 8 Michelangelo: Grabmal von Lorenzo il magnifico [und seines jüngeren, 1478 ermordeten Bruders Giovanni]
Musik 5 Heinrich Isaac - Lamento per la morte di Lorenzo Il Magnifico (1492) - Anfang [2'10].
Die Medici-Dynastie verstand es zu Beginn des 16. Jahrhunderts, ihre Macht über Florenz hinaus auszudehnen, nicht zuletzt auch nach Rom, dem Sitz des Oberhauptes der katholischen Kirche. 1513 besteigt mit Giovanni de'Medici ein Sohn Lorenzos des Prächtigen als Leo X. den Heiligen Stuhl – es war der erste Medici-Papst, und nur zehn Jahre später folgte mit Clemens VII. der nächste Papst aus der Medici-Dynastie.
Fünf Jahre nach seiner Inthronisierung wird für eben diesen Papst Leo X. eine kostbare Musikhandschrift erstellt: der sogenannte Medici-Codex, eine Anthologie mit 53 Motetten von 21 Komponisten. Dazu zählt auch eine sogenannte Huldigungsmotette von Andreas da Silva. Über diesen Komponisten wissen wir leider sehr wenig. Er kam wohl um 1475, in Spanien oder Portugal zur Welt, arbeitete seit Januar 1519 für Papst Leo X. und hat mindestens 6 Messen und 31 Motetten komponiert – darunter "Gaude felix Florentia", eine sechsstimmige Motette in drei Teilen, von der wir nun den Schluss hören.
Musik 6 Andreas da Silva "Gaude felix Florentia", Motette zu 6 Stimmen – Schluss [3'55]
Bild 9 Papst Leo X. mit den Kardinälen Giulio de’ Medici, dem späteren Clemens VII. und Luigi de’ Rossi – Gemälde von Raffael, um 1518-1519
Insgesamt drei Medici-Päpste – das bedeutete neben dem Ansehen nicht zuletzt auch eine beträchtliche Macht-Versicherung für die Herrscher-Dynastie aus Florenz.
Eine weitere beliebte Strategie, die Macht zu erhalten und womöglich auszudehnen, war – wie bei fast allen Herrscher-Häusern – eine gezielte Hochzeitspolitik.
Es gab im Laufe der dreihundertjährigen Medici-Herrschaft natürlich viele Eheschließungen mit derartigen Ambitionen. Die damit einhergehenden Zeremonien und Feste mussten selbstverständlich auch den Reichtum und die Macht der Medici repräsentieren – nicht zuletzt mittels einer eigens für den jeweiligen Anlass komponierten Musik. Einige solcher Hochzeitsmusiken sind in die Geschichte eingegangen wie zum Beispiel im Jahre 1539:
"Le musiche fatte nelle Nozze dello Illustrissimo Duca di Firenze il Signor Cosimo de Medici et della illustrissima consorte sua Madama Leonora da Tolleto" (Die Musiken für die Hochzeit des hochwohlgeborenen Herzogs von Florenz, Herrn Cosimo de Medici und seiner hochwohlgeborenen Ehefrau, Madame Eleonora von Toledo).
Bild 10 Cosimo I. de' Medici
Bild 11 Leonora da Toledo
Die Geschichte und die Hintergründe dieser Eheschließung hat der Historiker Arne Karsten sehr anschaulich beschrieben. Ich zitiere daraus einige Abschnitte:
Die junge Dame, die am Morgen des 22. Juni 1539 im Hafen der toskanischen Küstenstadt Livorno eintraf, konnte sich über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beklagen. [...] Elf Tage zuvor, am 11. Juni, war sie in Neapel mit einem Geschwader von nicht weniger als sieben Galeeren aufgebrochen. Es handelte sich bei dieser Reise offensichtlich um eine Haupt- und Staatsaktion: Eleonora von Toledo, die jüngere Tochter des spanischen Vizekönigs in Neapel, Don Pedro da Toledo, war auf dem Weg nach Florenz, um dort Cosimo I. de‘ Medici, den Herzog der Toskana, zu heiraten. Dies war in der Tat ein Ereignis, das nicht nur von den aufgeregten Livornesen, sondern von den Fürsten und Königen in ganz Europa aufmerksam registriert wurde.
Cosimo de‘ Medici war noch nicht lange Herr von Florenz. Gut zwei Jahre vor dem Einlaufen der neapolitanischen Hochzeitsflotte in Livorno, am 7. Januar 1537, war sein entfernter Cousin Alessandro de‘ Medici, der erste Herzog der Toskana, ermordet worden. Ein direkter Erbe stand nicht bereit. Bei ihren intensiven Beratungen, wer die Nachfolge antreten könnte, verfielen die Florentiner Patrizier schließlich auf den erst 17-jährigen Cosimo. Da er einer Nebenlinie des berühmten Geschlechts entstammte, auf dem Land aufgewachsen und auf die Aufgaben eines Fürsten in keiner Weise vorbereitet war, nahmen die politisch erfahrenen Honoratioren an, den jugendlichen Burschen ohne große Mühe am Gängelband führen zu können. Doch sie sollten sich gründlich täuschen. Cosimo war keineswegs gesonnen, lediglich eine repräsentative Rolle zu spielen. Schnell ergriff er mit Energie und Geschick die Zügel und domestizierte nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche die Konkurrenten um die politische Macht in Florenz. Zwei Jahre nach dem Regierungsantritt war seine Position unumstritten. Was ihm zur endgültigen Festigung seiner Position allein noch fehlte, war eine Frau.
Nach Lage der Dinge handelte es sich bei der Brautwahl um ein Politikum ersten Ranges, und so wandte sich der junge Herzog an keinen Geringeren als Kaiser Karl V. mit der Bitte, ihm eine passende Ehefrau vorzuschlagen. Im Stillen hatte Cosimo auf eine uneheliche Tochter des Kaisers spekuliert, wodurch die enge Bindung an das Haus Habsburg und damit die Unterstützung des mächtigsten Mannes der Christenheit gesichert gewesen wäre. Doch der Kaiser griff eine Rangstufe niedriger, als er auf die Töchter des reichen und mächtigen Don Pedro da Toledo verwies, zu dieser Zeit Vizekönig des zu Spanien und damit zum Habsburger-Imperium gehörenden Königreichs Neapel. Don Pedro hatte zwei Töchter, von denen er zunächst die ältere namens Isabella unter die Haube bringen wollte und dem Florentiner Herzog dafür die stolze Mitgift von 80000 Dukaten bot. Der Florentiner Agent in Neapel berichtete jedoch, dass Isabella hässlich wie die Nacht und wahrlich nicht die Hellste sei – woraufhin Cosimo sich mit einem Viertel der zunächst angebotenen Summe als Mitgift zufrieden erklärte, wenn er die schöne und geistreiche Eleonora zur Gemahlin bekäme. Nach längeren Verhandlungen, während derer die zukünftige Braut Gelegenheit hatte, erst einmal Italienisch zu lernen, gab Don Pedro schließlich seine Zustimmung. Damit wurde die politische Bindung des jungen Cosimo de‘ Me‧dici an die spanische Krone sozusagen amtlich [...]
Soweit die Darstellung des Historikers Arne Karsten.
Musik 7 Francesco Corteccia: Ingredere [3'05]
Ein Ausschnitt aus "Musiche fatte nelle nozze" – Musiken für die Hochzeit (von Cosimo I. de' Medici und Leonora da Toledo).
Der wichtigste Komponist war dabei Francesco Corteccia (1502-1571), der auch die Oberleitung für die gesamten Hochzeitsfeierlichkeiten hatte. Francesco Corteccia lebte und wirkte ausschließlich in seiner Geburtsstadt Florenz, wo er ab 1531 Organist an San Lorenzo war. Im Jahr 1539 trat er in den Dienst der Familie de’ Medici und bekleidete die Stelle des Kapellmeisters am Hofe des Herzogs Cosimo I.
Es gibt in der Sammlung zweierlei Stücke: zeremonielle Werke, die in verschiedenen toskanischen Städten aufgeführt wurden, wenn das Paar sich den Untertanen vorstellte, und Intermedii, Zwischenaktmusiken, die im Zusammenhang mit einem Schauspiel entstanden, das zur Unterhaltung der Gäste gegeben wurde.
Die Musik wurde gesungen und von Orgeln, Traversflöten, Lauten, Blockflöten, Krummhörnern, Zinken, Posaunen, Cembali, Rebecs und Harfen gespielt – sozusagen das "Orchester" der Renaissance.
Wir hörten aus der Hochzeitsmusik von 1539 zunächst das Eröffnungsstück "Ingredere" (lateinisch für "Einzug"), komponiert von Francesco Corteccia.
Und nun folgt noch das Schlussstück der Sammlung, der ebenfalls von Corteccia stammende "Ballo di Satiri e baccante" (Tanz der Satyrn und Bacchantinnen)
Musik 8 Francesco Corteccia - Ballo di Satiri e baccante [1'25]
Bild 12 Ferdinando I. de' Medici mit seinen Musikern
50 Jahre später, am 2. Mai 1589, bot eine weitere Medici-Hochzeit, nämlich diejenige von Ferdinando I. de’ Medici mit Christine von Lothringen den Anlass, im Uffizientheater in Florenz die Komödie La pellegrina des Dichters Girolamo Bargagli aufzuführen. Zwischen den Akten spielte man insgesamt sechs prunkvoll ausgestattete musikalische Intermedien (Zwischenspiele) von einigen der bedeutendsten Komponisten der Zeit, darunter Cristofano Malvezzi, Luca Marenzio, Giulio Caccini, Jacopo Peri und Emilio de’ Cavalieri.
Diese Intermedien gelten heute als wichtigster Vorläufer der Gattung Oper.
Hören Sie jetzt einen Ausschnitt – eine Sinfonia – aus dem von Cristofano Malvezzi (einem Schüler von Francesco Corteccia) komponierten ersten Intermedium, mit dem Titel: "L'Armonia delle sfere" (Die Sphärenharmonie).
Musik 9 Cristofano Malvezzi (1547-1599) - Primo Intermedio "L'Armonia delle Sfere" (Sinfonia a 6) [2'30]
Bild 13 "L'armonia delle sfere" (Bühnenbild von Bernardo Buontalenti)
Als allererste Oper der Musikgeschichte gilt zwar "La Dafne" von Jacopo Peri, entstanden im Jahr 1598 auf ein Libretto von Ottavio Rinuccini – aber leider ist sie nur fragmentarisch überliefert.
Darum darf die zwei Jahre später vom gleichen Autorenteam verfasste "Eurodice" den Primat der Operngeschichte für sich beanspruchen.
Jacopo Peris "Euridice" erlebte ihre Uraufführung am 6. Oktober 1600 im Palazzo Pitti in Florenz, dem Hauptsitz der Medici.
Bild 14 Konzerte im Palazzo Pitti (sala bianca)
Anlass für die Komposition war (natürlich) wiederum eine Hochzeit, diesmal die des französischen Königs Heinrich IV. mit Caterina de Medici.
Hören wir jetzt aus Peris "Euridice" "Non piango, e non sospiro" (Ich weine und seufze nicht) – die Klage des Orfeo (Orpheus). Von "Arie" lässt sich in dieser Frühform der Oper noch nicht sprechen, es handelt sich vielmehr um eine Vorform, den damals ganz neuen "Canto in stile recitativo".
Musik 10 Jacopo Peri - L'Euridice, Non piango, e non sospiro [1'35]
Nikolas Achten sang, begleitet von seinem Ensemble "Scherzi musicali" die Orpheus-Klage "Non piango, e non sospiro" aus der Oper "Euridice" von Jacopo Peri.
Zeitgleich mit Peri arbeitete um das Jahr 1600 in Florenz auch ein Konkurrent, der Komponist Giulio Caccini an seiner "Euridice" und benutzte dabei auch das gleiche Libretto von Ottavio Rinuccini. Er wurde aber nicht rechtzeitig zum genannten Hochzeitsfest fertig.
So kam es, dass die Aufführung von Peris Euridice beim Hochzeitsfest am 6. Oktober 1600 zu einer abenteuerlichen Klitterung geriet, denn einige der engagierten Sänger gehörten zum Umfeld des intriganten Caccini, unter ihnen auch seine Tochter Francesca. Diese weigerten sich, die von Peri für sie komponierten Passagen zu singen; stattdessen sangen sie die entsprechenden Teile aus Caccinis Vertonung. [...] Nach der Aufführung beeilte sich Caccini, sein Werk zu vollenden und noch vor Peris Euridice im Druck erscheinen zu lassen. Es wurde auf diese Weise zur ältesten gedruckten Oper der Geschichte, obwohl es erst zwei Jahre später uraufgeführt wurde.
Heute erlaubt uns die Existenz von zwei handlungsgleichen und zeitgleich entstandenen Opern über den Orpheus-Mythos einen interessanten Stilvergleich.
Hier noch einmal die Orpheus-Klage "Non piango, e non sospiro", mit den gleichen Interpreten – nun aber in der Version Giulio Caccinis:
Musik 10 Giulio Caccini - L'Euridice, Non piango, e non sospiro [1'28]
Peri oder Caccini – die stilistischen Unterschiede der beiden Euridice-Opern sind nicht groß. Aber beide zusammen repräsentieren sie einen hörbaren "Quantensprung" der Musikgeschichte, den Übergang von der Renaissance zum Frühbarock, der gleichbedeutend ist mit dem Wechsel vom statisch- repräsentativen zum dramatisch-emotionalen Ausdruck in der Musik – wie in der Kunst allgemein.
Von Giulio Caccini kommen wir nun am Schluss meines Vortrags zu seiner Tochter Francesca, die wohl schon mit dreizehn Jahren bei der Uraufführung der "Euridice" im Chor der Nymphen mitgesungen hat.
Bild 15 Francesca Caccini
Francesca Caccini (1587-1640) war Sängerin (Sopran), Komponistin und Instrumentalistin, und stand seit ihrem dreizehnten Lebensjahr in Diensten der Medici. In der Nachfolge zu Jacopo Peri, ihrem Vater Giulio Caccini und einigen weiteren Komponisten gehörte sie zu den Pionieren der Gattung Oper. Ihre (Ballett-)Oper La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (Die Befreiung des Ruggiero von der Insel der Alcina) von 1625 gilt als früheste erhaltene Oper einer Komponistin.
Das Werk entstand im Auftrag der toskanischen Großherzogin Maria Magdalena von Österreich. Anlass war der Besuch des polnischen Kronprinzen Wladislaw Sigismund. Die Uraufführung fand am 2. Februar 1625 – wie üblich zur Karnevalszeit – in der Villa Poggio Imperiale bei Florenz statt.
Hören Sie nun also zum Abschluss den Prolog zu dieser Ballettoper (eine Sinfonia mit dem Titel "Non perché congiurati" – "Nicht wegen der Verschwörer"), in einer Aufnahme mit dem Huelgas-Ensemble unter Paul van Nevels Leitung.
Musik 12 Francesca Caccini - La liberazione di Ruggiero dall'Isola d'Alcina - Sinfonia [3'40]